Völzberg goes Hollywood
Autor: Frank Jermann, veröffentlicht am 6. Februar 2019

Seltsame Dinge tun sich in Völzberg. Gestern fotografierten zwei Hipster Martha. Martha ist unsere Vogelscheuche. Die Hipster fotografierten sie ausführlich. Hätte Martha das geahnt, hätten Frisur und Kopftuch in diesem Augenblick sicher besser gesessen. Schaute man genau hin, dann sah man: Martha war ob so viel Aufmerksamkeit ein wenig rot.
Hipster in Völzberg? In einer Region, in der diese gesellschaftliche Spezies seltener ist als der Wolf, sind solche Anblicke bemerkenswert. Die weite Welt entdeckt unser Dorf. Das ist verständlich und überfällig, denn hier ist es grossartig. Naja, jedenfalls weitgehend …
So schnell, wie sie auftauchten, waren sie aber auch wieder verschwunden, die Hipster. Das Dorf hatte nicht mal Zeit, in Wallung zu geraten. War das nur ein kurzes Aufflackern, hatten uns die grossstädtisch anmutenden Fremden schon wieder vergessen? Ein paar Fotos von Martha auf einem Speicherchip — sollte das alles sein?
Faszination Völzberg!
Keine 24 Stunden später, früh am Morgen, stand eine Gruppe von achtzehn Personen an unserer Kreuzung, unter der mächtigen Weisstanne. Sie gingen mal zehn Meter nach Norden, dann wieder zurück, kreisten auf der Kreuzung, versammelten sich schliesslich mitten auf ihr. Alles wurde betrachtet. Irgend etwas musste faszinierend sein.

Aber was? Das Bar-Schild vom Vesuv mit den Einschusslöchern grosskalibriger Jagdwaffen italienischer Mafiosi? Unser heruntergekommener Maschendrahtzaun? Gar der Gullideckel?
Wurde unsere Kreuzung vor dem Haus in den gerade erschienenen 50 Reiseempfehlungen der New York Times gelistet? Nie zuvor dürfte es eine grössere und längere Ansammlung von Ortsfremden an dieser Stelle gegeben haben. Was war passiert? Was bahnte sich da an?
Martha ist der Star
Ich hielt mein Ohr zum Fenster hinaus. Das Wort Vogelscheuche war mehrfach zu hören. Es wurde ziemlich angespannt geredet, ein fast geschäftliches Treiben war zu beobachten. Dem aufmerksamen Betrachter fielen Kleingruppen auf, die augenscheinlich separate Themen besprachen. Alle hatten Notizblöcke oder Tablets in der Hand. Skizzen wurden angefertigt, dutzende Fotos in alle Richtungen geschossen. Und es wurde immer wieder auf Martha, die Vogelscheuche, hingewiesen. Martha war so etwas wie der heimliche Star.
Eine geradezu beängstigende Konzentration, bedingungslose Fokussierung war zu spüren. Seit langen Minuten stand die Gruppe nun an diesem Fleck, an dem Fremde sonst höchstens mal als Fahrradfahrer vorbeihuschen. Aber klar, wo anders sollten sie stehen als auf der Strasse — in einem Ort, in dem es gerade mal 25 Meter Fussgängerweg an der Brücke über den Bach gibt?
Versteckte Kamera? Von wegen!
Ein Fahrzeug näherte sich. Die Kreuzung wurde von der Gruppe freigegeben. Anstatt — wie immer — rechts abzubiegen, fuhr das Auto geradeaus und erst an der nächsten Strasse rechts. Wer Völzberg kennt, weiss, dass bereits dieses Fahrverhalten eine Meldung darstellt in unserem Dorf. Die achtzehn Fremden brachten offensichtlich Verwirrung in das Leben der Völzberger.
Verschlafen schlurfte ich hinaus. Neugier trieb mich. Mit einem freundlichen Lächeln, das zwischen dem sorgfältig geschnittenen Vollbart hervorblitzte, kam einer der Hipster auf mich zu, schüttelte mir die Hand. Vermutlich machte ich genau den Eindruck, den Städter manchmal von der Landbevölkerung haben. Ob man mich für einen Eingeborenen hielt? Suchte man Kontakt zu dieser unbekannten Spezies in den hinteren Winkeln der Vogelsbergregion?
Der Erstkontakt war aus meiner Sicht jedenfalls gelungen: Eine nette und lustige Truppe scharte sich um mich. Was mochten die aber von mir denken? Schon mein Bart war anders — wuschelig. Und anstatt gut und eng sitzender Hosen trug ich eine verblichene Schlabberbüx. Allerdings mit altmodischer Bügelfalte!
Als man mir erklärte, dass es sich um ein Filmteam handele, das die Dreharbeiten zu der Verfilmung eines Buchs vorbereiten wolle, glaubte ich eher an einen gut eingefädelten Scherz. Aber wer sollte sich so etwas Absurdes ausdenken? Das war zu schräg, um es zu erfinden.
Café muss sein — Kaffee geht nicht
Ich wies natürlich auf unser Café hin — klar, das musste ich machen, schon aus Marketinggründen. Wann sind bei uns schon mal so viele Fremde auf einem Haufen anzutreffen? Und wer von denen würde hier am Ende der Welt einen solch aussergewöhnlichen Ort wie die Fliegende Ente vermuten? Ich lag richtig: Man hatte keinen Schimmer von der Exiszenz unserer gastlichen Stätte — obwohl man bereits mit dem Bürgermeister „Gottschalk“ und der Marketingverantwortlichen der Gemeinde gesprochen hatte.
Ich schleifte also eine neugierig gewordene Abordnung in unseren Gastraum. Ob der Anblick zwei grosstädtische Hipster, die bestimmt jede Szenekneipe zwischen Kreuz- und Prenzlauer Berg kannten, beeindrucken konnte? Ich war unsicher.
Der Gastraum konnte. Also: beeindrucken. Erleichtert nahm ich so etwas wie ungläubiges Staunen bei den Filmleuten wahr. Na prima, mein Versuch hatte geklappt. Das Ambiente konnte sogar einem international erfahrenen Filmteam ein Erstaunen entlocken.
Für eine Tasse Kaffee war allerdings keine Zeit, zu beschäftigt und professionell war man. Zeit wird ja bereits wenige Meter ausserhalb Völzbergs mit Geld aufgewogen, da blieb kein Raum für eine oder zwei Viertelstunden auf einen Schwatz. Auch der Hinweis auf unseren köstlichen Arabica-Kaffee und die besten Brownies östlich von New York, den ich so gelassen wie möglich anbrachte, konnte daran nichts ändern. Aber dass ich von der Existenz New Yorks wusste, das hatte die Beiden doch wohl hoffentlich beeindruckt, oder?
Robert und Sandra sind willkommen

Irgendwann war die Gruppe verschwunden. Ich sass am Schreibtisch und fing an zu träumen. Für ein paar Augenblicke war heute die grosse weite Welt in Völzberg anwesend. Ob bald Robert de Niro und Sandra Bullock während der Dreharbeiten bei uns zu Gast sein würden? Ich könnte ihnen meine Nougat-Marzipan-Torte backen, Anke würde Kaffee aus dem Perkolator an den Tisch bringen, Bob ihr verschmitzt zuzwinkern. Sandra vielleicht mir, mit Kuchenkrümeln im linken Mundwinkel? Vielleicht würden die beiden Filmstars bald ihre Sonntage statt in New York City und New Orleans in Völzberg verbringen?
Nun, ich bin realistisch: Das ist ziemlich unwahrscheinlich. Aber Martha wird möglicherweise träumen von einer kleinen Rolle in diesem Film, einem kurzen Augenblick des Ruhms. Ich schaute aus dem Büro zu ihr herüber, auf die andere Seite der Strasse, in unseren Garten. Die Sonne schien herrlich über den Schnee und blendete mich ein wenig. Ich war nicht ganz sicher — meine aber, dass sie ihr Kopftuch etwas gerade gerückt hatte.
-Frank Jermann